Das Phänomen des Primators – Oberbürgermeisters. Persönlichkeiten an der Spitze der Städten im 19. und 20. Jahrhundert

Das Phänomen des Primators – Oberbürgermeisters. Persönlichkeiten an der Spitze der Städten im 19. und 20. Jahrhundert

Organisatoren
Archiv der Hauptstadt Prag; Historisches Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften Prag; Fakultät für Humanistische Studien, Karls-Universität Prag; Philosopische Fakultät, J. E. Purkyně-Universität Ústí nad Labem; Institut für Geschichte und Archivwissenschaft, Pädagogische Universität Krakau
Ort
Prag
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
04.10.2022 - 05.10.2022
Von
Zora Damová / Markéta Růčková, Archiv der Hauptstadt Prag

Die 41. internationale Tagung des Archivs der Hauptstadt Prag und seiner Partner widmete sich den Bürgermeistern in den Metropolen Mitteleuropas. Eröffnet wurde das Treffen von OLGA FEJTOVÁ (Prag), die auf die Projekte des Prager Stadtarchivs hinwies, die Ausgangspunkt dieser Tagung waren. Hierzu zählen das Lexikon der Prager Ratsherren bis 1784 und biographische Studien über die Prager Bürgermeister und Oberbürgermeister von 1784–1989. Fejtová betonte die Notwendigkeit, die Persönlichkeit der Bürgermeisterämter im Zusammenhang mit der Entwicklung der kommunalen (Selbst-)Verwaltung umfassend zu konzeptualisieren. Die Leitung der Stadt hing in erster Linie von ihrem persönlichen Engagement ab. Einige von ihnen trugen zu den massiven Veränderungen und der Entwicklung der Stadt bei, während die Untätigkeit anderer zur Stagnation der Stadt führte.

Ein Autorenteam unter der Leitung von MARTINA MAŘÍKOVÁ (Prag) stellte die Bürgermeister von der Gründung des regulierten Magistrats im Jahr 1784 bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts vor. Nach der Zeit, in der die Bürgermeister vom Kaiser ernannt wurden, erhielt Prag 1850 ein eigenes Statut, und die Bürgermeister wurden wieder durch ein Gremium von Stadtältesten gewählt. Sie mussten jedoch weiterhin vom Kaiser bestätigt werden. Dies wurde von MARTIN KLEČACKÝ (Prag) eingehender untersucht: In einer detaillierten Analyse legte er die Grundsätze dar, die den Kaiser dazu veranlasst haben könnten, den siegreichen Kandidaten abzulehnen, und welche Auswirkungen diese Entscheidung auf die Kommunalpolitik hatte.

Ein konkretes Beispiel für eine Persönlichkeit der Prager Verwaltung wurde von MARTINA POWER (Prag) genannt, die sich mit der Person des Bürgermeisters Václav Vaňka befasste. Er wurde im turbulenten Jahr 1848 Bürgermeister. Er kümmerte sich zwar als konservative Führungspersönlichkeit um eine eher unbedeutende Agenda, aber in dieser Zeit entstand eine Reihe von Ideen, die später umgesetzt wurden und die Entwicklung der Stadt vorantrieben. HANA GUTOVÁ VOBRÁTILKOVÁ (Prag) verglich die Aktivitäten zweier Prager Führer aus dem späten 19. Jahrhundert. Während der Bürgermeister Tomáš Černý (1882–1885) voller fortschrittlicher Ideen für die Entwicklung der Stadt war, war sein Nachfolger Ferdinand Vališ eher konservativ, schaffte es aber, die Finanzen besser zu verwalten und viele von Černýs Projekten zu vollenden. Sein erfolgreiches Wirken endete mit seinem vorzeitigen Tod im September 1887. Erwähnenswert ist auch, dass Ferdinand Vališ der erste Prager Bürgermeister protestantischen Glaubens seit der Schlacht am Weißen Berg war. Weitere Bürgermeister dieser Konfession aus böhmischen, mährischen und schlesischen Städten im 19. Jahrhundert wurden von ZDENĚK R. NEŠPOR (Prag) besprochen.

Der Beitrag von JAN ŽUPANIČ (Prag) befasste sich mit der Nobilitierung, genauer gesagt mit den Prager Bürgermeistern, die vom Kaiser mit dem Ritterkreuz des Leopoldordens ausgezeichnet wurden. Dieser Standeserhebung wurde erstmals 1808 an den höchsten Beamten der Landeshauptstadt verliehen und sein Besitz ermöglichte die Ernennung zum Ritter. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde den Prager Bürgermeistern der Orden der Eisernen Krone dritter Klasse verliehen. Die Tätigkeit der Stadtoberhäupter konnte auch auf andere Weise gewürdigt werden. TOMÁŠ STERNECK (Prag) erinnerte an ein Festgedicht und andere Ehrungen für den Bürgermeister von České Budějovice, František Eusebius Daublebský. Sterneck wies auch auf die Rückschläge hin, die Daublebskýs Amtlichkeit begleiteten.

Eine Parallele zur Prager Situation findet sich in österreichischen Städten – in Graz, Linz und Wien. MARTIN SCHEUTZ (Wien) hat sich mit ihnen für die Zeit der 1860er- und 1870er-Jahre beschäftigt. Diese Zeit war geprägt von liberalen Bürgermeistern, unter deren Herrschaft die Städte ihre Mauern einrissen und den Prozess der Urbanisierung begannen. Die wachsende Bevölkerung machte eine Änderung der Sozialpolitik und der Hygienestandards erforderlich.

In Bayern war das System anders. BRIGITTE HUBER (München) berichtete über die Situation in München. Die bayerische Hauptstadt wurde lange Zeit von einem Kurfürsten regiert, später gab es verschiedene Regierungsformen, vom Kollegium bis zum Gremium, nach französischem Vorbild. Nach den Napoleonischen Kriegen (1818) erlangte die Stadt ihre Unabhängigkeit, kämpfte aber mit einer hohen Verschuldung. Dank ihrer fähigen Führung wurde die Stadt aus den Schulden befreit und entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem europäischen Kultur- und Gesellschaftszentrum. Auch Thorn (Toruń) in Polen kämpfte mit Kriegsschulden. WŁODZIMIERZ ZIENTARA (Toruń) stellt die Figur des Bürgermeisters Theodor Eduard Körner (1842–1878) in den Mittelpunkt: Körner war ein fähiger Politiker, der nicht nur die Schulden tilgte, sondern auch eine Reihe von Reformen durchführte, die zur Modernisierung der Stadt führten. ALEKSANDER ŁUPIENKO (Warschau) berichtete über die Situation in den kleineren Städten in Galizien. In seinem Bericht verglich er die galizischen Städte Nowy Sącz, Tarnów, Stanisławów (heute Ivano-Frankivsk) und Tarnopol. Die Entwicklung dieser Städte verlief langsamer. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden sie umfassend modernisiert.

ATTILA TÓZSA-RIGÓ (Miskolc) skizzierte in seinem Beitrag die Situation in Budapest in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, als István Bárczy die Stadt führte. Der Vortrag von VERONIKA SZEGHY-GAYER (Košice) konzentrierte sich auf sechs Repräsentanten der Stadt Kaschau (Košice) vor 1945 aus dem Kreis der Eliten ungarischer und slowakischer Nationalität, deren offizielle Laufbahn nicht unbedingt durch das Aufkommen neuer politischer Regime beendet wurde. ANDREAS WEIGL (Wien) sprach über die politische Situation im sozialdemokratisch dominierten Wien der Zwischenkriegs- und Nachkriegszeit.

In den meisten Beiträgen wurde darauf hingewiesen, dass die Bürgermeister zunächst von juristisch gebildeten Männern geführt wurden. Dies wurde von IRENA KAPUSTOVÁ (Hradec Králové) am Beispiel von František Ulrich bestätigt. Dieser juristisch gebildete Politiker beschloss, die Provinzstadt Hradec Králové in eine Großstadt zu verwandeln. Dank seiner Zusammenarbeit mit dem Architekten Josef Gočár verlieh er ihr zudem ein unverwechselbares Aussehen. Allmählich drängten auch andere Berufe an die Spitze der Städte, wie zum Beispiel Architekten, deren Bedeutung mit dem Bau moderner Städte zunahm. TOMÁŠ KORBEL (Prag) beschäftigte sich mit diesem Thema. In seinem Beitrag stellte er vier Architekten vor, die dank ihrer geschäftlichen, vereins- und gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten sowie ihrer Bautätigkeit als Bürgermeister von Jičín, Žižkov (heute Stadtteil Prags), Teplice und Františkovy Lázně an der Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert tätig waren. KAREL ŘEHÁČEK (Plzeň) versuchte, die Typologie der Persönlichkeiten, die Arbeitsweise, das Handeln und die Kommunikation der Vertreter der Stadt Plzeň in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhundert zu umschreiben. Eine wichtige Rolle spielten dabei nicht nur die Bildungsabschlüsse, sondern auch die Fähigkeit zum Aufbau langfristiger persönlicher und politischer Beziehungen innerhalb der Leitungsfunktion.

Ein wichtiges Thema war das Schicksal von Bürgermeistern während des Zweiten Weltkriegs. KINGA SIEDLICH (Toruń) erwähnte Carl Friedrich Goerdeler, Bürgermeister von Leipzig von 1930 bis 1937. Seine Politik zielte darauf ab, die Folgen des Ersten Weltkriegs und der hohen Inflation abzumildern. In finanzieller und wirtschaftlicher Hinsicht bemühte er sich um die Einführung neuer Haushaltsregeln und die Stärkung des lokalen Handels. NINA LOHMANN und JIŘÍ PEŠEK (Prag) befassten sich mit der Rolle der Präsidenten der Stadt Warschau in den Jahren 1939–1950. Der bedeutendste von ihnen, Stefan Starzyński, führte die Verteidigung der Stadt gegen die Besetzung durch Nazi-Deutschland an. PAVOL MATULA (Bratislava) sprach über die Persönlichkeit des Bürgermeisters von Žilina, Vojtech Tvrdý, der die Stadt seit 1938 leitete und maßgeblich an ihrer Entwicklung beteiligt war. Er war auch politisch aktiv und setzte sich als Mitglied der Versammlung der Slowakischen Republik aktiv für den Schutz der slowakischen Juden vor der Deportation ein.

Die Nachkriegssituation in Nürnberg wurde von CHRISTOF NEIDIGER (Nürnberg) erörtert. Die Erneuerung der Stadt wurde vor allem mit dem sozialdemokratischen Bürgermeister Otto Bärnreuther in Verbindung gebracht. In seiner Amtszeit wurde eine Reihe von Gebäuden errichtet, die noch heute ihren Zweck erfüllen. MARIA HORN (Nürnberg) wies auf die neuen Methoden der Stadtentwicklung hin, die der Nürnberger Bürgermeister und Bärnreuther-Nachfolger Andreas Urschlechter einführte. Er habe die Zukunft der Stadt zum Beispiel mit Hilfe von Computertechnik geplant.

TOMÁŠ DVOŘÁK (Brno) kehrte mit seinem Vortrag in die Tschechoslowakischen Republik, nach Mähren zurück und beschrieb die Beziehungen zwischen den politischen Oberhäuptern von Brünn (Brno) nach 1948. In der Tschechoslowakei war das Amt des Bürgermeisters im System der Volksverwaltung nur repräsentativ, die eigentliche politische Macht hatte der Vorsitzende des Kreisauschusses der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei inne. Dies wurde von VÁCLAV LEDVINKA (Prag) aufgezeigt, der die Prager Primatoren der Nachkriegszeit, insbesondere Václav Vacek, erwähnte. Er betonte, dass der Titel des Primators trotz des Rückgangs der Befugnisse des Primators beibehalten wurde und eine eher symbolische Funktion hatte.

Ziel der Tagung war es, Themen im Zusammenhang mit der Verwaltung und Entwicklung von Städten im 19. und 20. Jahrhundert in Mitteleuropa zu beleuchten, das Schicksal und die Arbeit einiger Stadtführer einem breiteren Fachpublikum vorzustellen und ein größeres Interesse an der Forschung in diesem Bereich zu wecken. Die Historiografie der Städte ist mit ihren Bewohnern verknüpft, und die Untersuchung ihrer Bürgermeister kann als Schlüssel zum Verständnis der Stadtentwicklungen gelten.

Konferenzübersicht:

Einführung

Olga Fejtová (Prag): Einführungsreferat

Sektion 1

Martin Klečacký (Prag): Eine Wahl mit dem Segen des Kaisers. Die Bestätigung der Wahl der Bürgermeister der Statutarstädte in Böhmen in den Jahren 1850–1918

Zdeněk R. Nešpor (Prag): Wenige von ihnen, oder die Protestanten an der Spitze der böhmischen, mährischen und schlesischen Städte im „langen“ 19. Jahrhundert

Alena Lehnerová et alii (Prag): Prominente Politiker auf dem Kleinseitner Friedhof

Sektion 2

Martina Maříková – Martina Power – Zlatuše Prokšová Brátková – Petra Slámová (Prag): Von den Bürgern gewählt, von den Behörden ernannt, vom Kaiser bestätigt. Die Besetzung des Amtes des Prager Bürgermeisters in den Jahren 1784–1838

Martina Power (Prag): Das Prager Rathaus in der Zeit des Bach’schen Absolutismus – das „dunkle“ Zeitalter der Kommunalverwaltung? (Diskussionsbeitrag)

Hana Gutová Vobrátilková (Prag): Die Alttschechen Tomáš Černý und Ferdinand Vališ – der Weg eines Visionärs und eines Pragmatikers an die Spitze Prags

Jan Županič (Prag): Eliten der Stadt, Eliten des Staats? Die Nobilitierung der Bürgermeister und Oberbürgermeister der königlichen Hauptstadt Prag

Sektion 3

Tomáš Sterneck (Prag): „Ein Star des Gemeinwohls“ oder ein skrupelloser Intrigant? Der Kult und die Kontroversen um den ersten Bürgermeister des Budweiser regulierten Magistrats

Martin Scheutz (Wien): Im Schatten der Revolution von 1848. Liberale Bürgermeister in Graz, Linz und Wien der 1860er und 1870er Jahre und deren Aufgabenfelder

Brigitte Huber (München): Von kommunaler Unmündigkeit zu selbstbewusster stadtbürgerlicher Interessensvertretung. Münchner Bürgermeister zwischen 1791 und 1919

Sektion 4

Włodzimierz Zientara (Toruń): Die Verdienste des Oberbürgermeisters Theodor Eduard Körner für die Stadt Thorn im 19. Jahrhundert

Aleksander Łupienko (Warszawa): Der Oberpräsident und die städtische Infrastruktur. Der Fall Galiziens

Sektion 5

Attila Tózsa-Rigó (Miskolc): Der Bürgermeister in schwierigen Zeiten. Die städtebaulichen Aktivitäten von Bürgermeister István Bárczy in Budapest während des Ersten Weltkriegs

Tomáš Korbel (Prag): Zwischen Bauunternehmungen und Kommunalpolitik. Tschechische Architekten und Baumeister an der Spitze der städtischen Selbstverwaltungen 1859–1919

Terezie Hlaváčková: Karel Baxa auf der Film-Leinwand

Sektion 6

Kinga Siedlich (Toruń): Carl Friedrich Goerdeler – Oberbürgermeister von Leipzig in den Jahren 1930–1937

Nina Lohmann – Jiří Pešek (Prag): Die Präsidenten der Stadt Warschau oder Wie man eine Hauptstadt in der Zeit von Krieg und Zerstörung am Leben erhält (1939–1950)

Andreas Weigl (Wien): Rote Patriarchen? Sozialdemokratische Bürgermeister in Wien und ihre innerparteilichen Rivalen

Sektion 7

Irena Kapustová (Hradec Králové): František Ulrich – der Bürgermeister, der Königgrätz einen modernen Charakter gab (Diskussionsbeitrag)

Karel Řeháček (Plzeň): Die Männer an der Spitze Pilsens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – eine Typologie der Persönlichkeiten und des Stils der Stadtverwaltung

Veronika Szeghy-Gayer (Košice): Die obersten Repräsentanten der Städte in der Slowakei im Wandel der Regime in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – der Fall Kaschau

Pavol Matula (Bratislava): Der Bürgermeister von Žilina Vojtech Tvrdý – ein Prominenter und Gegner des Volksregimes

Sektion 8

Christof Neidiger (Nürnberg): Besiedelung der „Steppe“ – Otto Bärnreuther und die beginnenden „Wirtschaftswunderjahre“ 1952–1957 in Nürnberg

Maria Horn (Nürnberg): Initiativen des Oberbürgermeisters der Stadt Nürnberg Andreas Urschlechter in der „Planungsdekade“

Tomáš Dvořák (Brno): Prestigeposten oder heißer Stuhl? Die Vorsitzenden des Brünner Nationalausschusses in den Jahren 1945–1954

Václav Ledvinka (Prag): Kult osobnosti primátora Vacka – k roli primátora v systému tzv. lidové správy (1945–1990)